Brief 4 - geschrieben am 6. Februar 2004

Do Not Act! (Teil 2)

In der ersten Stunde bekamen wir alle die Aufgabe: Setz dich auf die Bank, die auf der Bühne steht. Mehr nicht. Nach einer Weile hieß es dann: "Vielen Dank" und der nächste durfte sich setzen. Ich hatte bereits etwas über diese Übung gelesen. Es geht darum auf der Bank zu sitzen, als wäre das Publikum nicht da. Das ist nicht leicht. Ich hatte das Gefühl, länger als die anderen auf der Bank zu sitzen und schließlich bekam ich das Gefühl, ich müsste etwas mehr tun. Ich fing an, mir ein Eichhörnchen vorzustellen, dass ich mit den Augen verfolgte. Ziemlich schnell kam dann ein "vielen Dank". Es klang so, als hätte die Lehrerin zuerst mehr in mir gesehen und hatte dies aber wieder revidieren müssen.

Die Zweite Übung war wesentlich heftiger. Jeder sollte auf der Bank sitzen und den Anweisungen folgen: Denk an einen Ort oder eine Situation in deinem Leben an dem du keine Angst haben musst, du selbst zu sein.
Wenn du kannst, versuch die Augen offen zu halten.
Was siehst du um dich herum?
Ist es hell draußen?
Wie viel Uhr ist es?
Was siehst du, wen du geradeaus siehst?
Ist jemand bei dir?
Was tut er/sie?
Was hörst du?
Was riechst du?

Nun begib dich an einen Zeitpunkt in deinem Leben, nachdem sich dein Leben verändert hat. Es sollte ein Zeitpunkt sein, und keine Entwicklungsphase. Versuch, die Augen offen zu halten.
Was siehst du um dich herum?
Ist es hell draußen?
Wie viel Uhr ist es?
Ist jemand bei dir?
Was tut er/sie?
Du musst nicht sagen, was passiert ist. Das ist nur für dich. Versuch diesen Moment so genau wie möglich zurückzuholen. Das ist nur für dich.

Was siehst du, wen du geradeaus siehst?
Was hörst du?
Was riechst du?

Es flossen Tränen sowohl auf der Bühne als auch im Publikum. Wenn die Schüler sichtlich mitgenommen waren, fragte die Lehrerin: "Kannst du dir vorstellen, diese Gefühle auf der Bühne zu verwenden?" Die Antwort war immer ja. Kritik gab es keine, nur ein "Das war wunderschön", für die, die geweint hatten. Wir lernten an diesem Tag wenig spezifisches über einander. Je nach beschriebener Situation wurden die Fragen zwar genauer (welche Farbe hat das Telefon, trägt sie Make-up, wie sieht das Sofa aus), aber nie invasiv. Die Fragen wurden meistens beantwortet, und wenn derjenige auf der Bühne wollte, erzählte er mehr, aber es wurde niemand dazu veranlasst. Einige Situationen, die beschrieben wurden, sind immer noch ein Rätsel, und so soll es auch sein. Es geht nur darum, einen Zugang zu sich selbst zu finden, und nicht, sich vor den Augen aller zu sezieren.

In der 2. Woche wurde die letzte Übung wiederholt, allerdings ohne, dass man antworten sollte. Die meisten Schüler schwiegen aber nicht, sondern stellten Fragen wo sie Unsicherheiten hatten oder die Technik nicht zu funktionieren schien. Die Lehrerin antwortete meist mit einer weiterführenden Frage. Ich bin erstaunt von der Menschenkenntnis, sich in derart vage beschriebene Situationen einzufühlen. Sie ist sich vor allem dessen bewusst was sie nicht über den Schüler weiss und stellt die Fragen ohne Arroganz, ohne Vorurteile und ohne den Schüler zu etwas zu zwingen oder zu drängen. Danach wurden Fragen gestellt, wie "Hast du dieselbe Situation genommen wie letztes mal, was hast du empfunden, was war anders? Wir erfuhren, dass die Übung letzte Woche einige von uns wirklich mitgenommen hatte. Jemand hatte 20 Minuten in ihrem Auto gesessen, bevor sie sich imstande sah, loszufahren. Auch wurde die Frage gestellt, warum die Mehrzahl der Wendepunkte in unserem Leben negativ sind. Es scheint als würde positives uns weniger zum Denken anregen.

In der 3. Woche kam ich zu spät. Frau Vozoff war da gewesen und hatte eine kurze Rede gehalten. Sie war gerade am gehen, und unsere Lehrerin (sie heißt Kate) wollte gerade anfangen, als ich hereinkam. Ich traf direkt auf Frau Vozoff, als ich die Tür öffnete. Das kurze Gespräch, das folgte veranlasste mich dazu, mich die ganze restliche Stunde schuldig zu fühlen:
LV: (leise aber eindringlich) Du darfst nicht zu spät kommen.
AA: Ich weiß
LV: Du kannst hier nicht zu spät kommen.
AA: Ich weiß
LV: Wir haben nur sehr wenig Zeit, und es ist verantwortungslos, das zu unterbrechen
AA: Ich weiß

In dieser Lektion sollten wir einen anderen Ansatz versuchen, an unsere Gefühle zu kommen. Es ging darum einen Brief zu verfassen, der für uns ein Risiko bedeutet ihn abzuschicken. Wir sollten möglichst schnell zum Punkt kommen. Nach ca. 2 Minuten des Schreibens wurden wir unterbrochen mit der Frage: "Weiß es die andere Person schon?" Danach wurden andere Fragen gestellt, ähnlich der vorherigen Lektion. Viele Schüler hatten das Problem die tatsächliche Tragweite abzuschätzen, wenn sie den Brief abschickten, manche hatten nichts zu verlieren, aber waren sich dessen nicht bewusst, einer sagte er habe keine Geheimnisse. Nicht jede Herangehensweise funktioniert für alle gleich gut, das sah ich jetzt. Leute, die in der vorherigen Lektion ohne Probleme tief in ihr innerstes vorgedrungen waren, blockten hier ab und umgekehrt. Es war nicht genug Zeit, alle dranzunehmen, denn nach der Pause war Improvisation mit Frau Vozoff angesagt. Improvisation bestand aus einer vorgegebenen Situation (Eine Kapelle, ein Sarg darin ein Selbstmörder. Nacheinander treten ein: der beste Freund des Toten, seine Frau, seine Geliebte. Jeder bekommt ein paar Minuten sich allein mit dem Toten zu befassen, dann setzen sie sich auf die Bank und der nächste tritt ein). Ziel der Übung: gib deinem Gegenüber ein Problem! Denn wenn kein Problem da ist, hat man keine Situation, die ein Schauspiel rechtfertigen würde. Außerdem ist jeder Schauspieler für ein Problem dankbar, denn ohne gibt es keinen Grund für Interaktion auf der Bühne. Jedesmal wenn die Situation in Richtung Friede, Freude, Eierkuchen abglitt, wurde sie von Frau Vozoff ein wenig verschärft. Auch hier kamen nicht alle dran. Nächste Woche würde beides fortgesetzt werden. Ich war heute nur Zuschauer gewesen. Zufall, oder hatte es mit meinem Zuspätkommen zu tun?

4. Woche: Ich kam dazu, den Brief zu schreiben. In dieser Übung fand ich endlich einen Zugang. Die Lehrerin schien beeindruckt und nannte meine Arbeit exzellent. Dieses Wort hatte sie, soweit ich mich erinnere, noch nie verwendet. Improvisation wurde durch ein Handyklingeln unterbrochen, und ich sah die Lehrerin zum ersten Mal wirklich wütend. Die Szene wurde wiederholt. Ich würde erst nächste Woche drankommen.

5. Woche: Improvisation wurde fortgesetzt. Nicht nur sollten wir versuchen unserem Gegenüber ein Problem zu geben (ohne das es auf der Bühne keine darstellenswerte Handlung geben kann) sondern wir sollten jeder auch ein Ziel haben was wir verfolgen. Während der Improvisation ist es nicht leicht, dieses im Auge zu behalten, da man ständig mit neuen Fakten konfrontiert wird. Es kann sein, dass die eigenen Ziele komplett aus der Bahn geworfen werden, oder dass man von verschiedenen Voraussetzungen ausgeht. Immer, wenn wir in einer solchen Sackgasse waren, wurde die Szene unterbrochen und das Problem besprochen. Dann wurde die Szene wiederholt. Oftmals verlief sie ganz anders als vorher, und obwohl eine neue Richtung eingeschlagen wurde, war sie doch meistens besser und interessanter als das erste mal. In der Nachbesprechung immer wieder die Fragen: Wer gab dir ein Problem? Dein Problem darf nicht bei einem toten Objekt liegen. Sobald auch nur eine andere Person auf der Bühne ist muss dein Problem bei einem lebenden Wesen auf der Bühne liegen. Was war dein Ziel in dieser Situation? Was hast du getan, um dieses Ziel zu erreichen? Als dies nicht half, wie hast du deine Handlung variiert?
Hinzu kam auch Arbeit mit Gegenständen, die wir mit die wir mit Bedeutung füllen sollten, z.B. eine Spieluhr, die Ihr von jemand anderem auf der Bühne bekommen habt, ein ungeöffneter Brief der eine Korrespondenz mit jemandem enthält, die sich um ein ungelöstes Problem rankt, etwa ein Brief von einem Anwalt, einer Ex-Geliebten, einer Arbeitsstelle, etc. Bitte selbst die Details ausarbeiten, ihr habt ca. eine Minute um euch vorzubereiten, und los geht es. Neue Dreieckszenen (wie die Begräbnisszene, eine Person zwischen zwei Fronten), auch Szenen mir 5 oder 6 Leuten in die 2 oder mehr Dreiecksszenen eingearbeitet waren.

6. Woche: Körperliche zustände: Kater, Gebrechen, Trunkenheit, Schmerz. Jeder kam einmal auf die Bühne und sollte den Anweisungen der Lehrerin folgen. Sie gab kurze Informationen zu der Art unseres Schmerzes und ein wenig Situation, der Rest war uns überlassen. Ich hatte schmerzen im Bein und sollte Angst haben es könne sich um etwas tatsächlich tragisches handeln. Am Ende der Übung lobte mich die Lehrerin und fragte, ob ich den Schmerz hatte spüren können. Ich verneinte und sie bat mich es noch einmal zu versuchen. Ich versuchte diesmal tatsächlich das Gefühl von Schmerz hervorzurufen, aber ich vergaß darüber alles andere und die Szene wirkte sehr übertrieben. Die Antwort darauf hatte Stanislavski schon beschrieben: "Viele Schauspieler machen den Fehler ihre gesamte Vorstellungskraft darauf zu verwenden das Gespenst, das sie konfrontiert, tatsächlich zu sehen. Viel besser ist es zu fragen: Was wäre WENN da wirklich ein Gespenst wäre?" Er spricht oft vom "magischen" wenn. Diese Erfahrung machte ich jetzt am eigenen Leib.
Eine sehr interessante Szene gab es noch: Einer von uns sollte einen Betrunkenen spielen, erst nach vier, nach sechs, und nach sieben Bier. Er war gut. Sehr gut. Er zeigte uns einen Betrunkenen in den eigenen vier Wänden ohne Übertreibung, ohne Verdramatisierung. Als er so bierselig auf der Bank saß geschah etwas unerwartetes. Eine Schülerin kam nach vorn und flüsterte der Lehrerin etwas ins Ohr. Die Lehrerin ließ darauf den Betrunkenen wissen, dass jetzt seine Tochter auf die Bühne käme und ihn besoffen vorfinden würde. Es entspann sich eine Szene in der die Tochter ihren Vater zum x-ten mal besoffen vorfindet, und sich mit ihm in einer wunderbar tiefen und gleichzeitig subtilen Mischung aus Zynismus, Humor, Ärger, Herabwürdigung, Liebe, und Resignation unterhält während er den Schein eines allerhöchstens leichten Schwipses aufrechtzuerhalten sucht. Irgendetwas ging auf der Bühne vor sich, das ich nicht ergründen konnte. Die Antwort lies aber nicht lange auf sich warten. Als die Szene zu Ende war, erklärte sie uns dass ihr Vater ständig besoffen war und sie schon von früher Kindheit an für sich selbst sorgen musste. Mit 13 durfte sie endlich arbeiten, ihr eigenes Geld verdienen und konnte so endlich ein Stück Unabhängigkeit für sich ergattern. Es war eine Szene, die einfach gespielt werden musste. Und obwohl auf der Bühne keine Träne floss, war es doch beeindruckender und stärker als jeder Auftritt den ich zuvor auf dieser Bühne gesehen hatte. Es stellte sich übrigens heraus, dass unser "Besoffener" nur dreimal in seinem Leben tatsächlich volltrunken gewesen war.

7.Woche: Wertvolle Gegenstände. Jeder sollte einen Gegenstand mitbringen, der ihm persönlich sehr viel bedeutet. Die Lehrerin ließ uns recht frei erzählen was es damit auf sich hatte und stellte kaum Fragen. In dieser Stunde erführen wir sehr viel über einander. Was sich doch für Geschichten und Erkenntnisse hinter den Leuten verbargen, mit denen wir noch kaum ein Wort gewechselt hatten. Einer von uns brachte eine Münze, die ihm 12 Jahre bei den Anonymen Alkoholikern bestätigte, ein anderer hatte Lessings Ringparabel neu erfunden indem er einen Ring, der ihm sehr viel bedeutete noch zwei mal aufs Haar duplizieren ließ, damit er jeder seiner Töchter diesen Ring vererben könnte, ohne selbst zu wissen, welche den wahren Ring bekäme. Ich brachte meinen Glücksraben, das einzige was ich hier habe was mich noch an meine Urgroßmutter erinnert. Ich denke, hier fielen endlich die Mauern der Fremdheit die wir noch gegenüber einander hatten. Ich verließ das Theater diesmal voller erstaunen, plötzlich eine Art tiefer Vertrautheit mit den Leuten zu empfinden, die ich erst seit 35 Stunden kannte, von denen wir die meiste Zeit schweigend nebeneinander gesessen hatten.

8. Woche: Die letzte Stunde des Quamesters, das neue beginnt erst in ein paar Wochen und dauert 12 anstatt nur 8 Sitzungen. Thema heute: Vorstellungskraft. Begib dich auf die Bühne und sei ein Baum.
Was bist du für ein Baum?
Wo stehst du?
Was tust du so?
Wenn du den Menschen, die du siehst, nur eine Sache sagen könntest, was würdest du sagen?
Es gab noch mehr fragen, das hier sind nur die, die allen gestellt wurden. Die anderen gingen auf den einzelnen Baum ein. Es gab viele schöne Bäume. Genial: der arrogante Bonsai. Kann man nicht beschreiben, muss man gesehen haben. Am beeindruckendsten fand ich die Tanne, die dem Holzfäller sagen wollte:
"noch nicht".
Für mich selbst kann ich nur sagen, dass meine beste Rolle bisher ein Baum war, aber erzählt das bloß nicht weiter. Es gab noch etwas Frage und Antwort und noch ein wenig Improv worin ich mich zwischen meiner Freundin und meinem Bruder, der behauptete, sie wäre zu schlecht für mich und würde mich hintergehen, hin-und hergerissen war. Alles in allem ein sehr schöner Ausklang.

Und wo wir gerade bei Ausklang sind:
Viele Grüße und alles Gute nach Hamburg!

Dann bis denne

Andi

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